BDS - Worüber reden wir eigentlich?

November 2017 - Dies ist eine thesenförmige Zusammenfassung einer ausführlicheren Argumentation, die ich bei der KoPI-Tagung „50 Jahre israelische Besatzung in Palästina“ im Mai 2017 verteilt habe. Die „Nah-Ost-Debatte" hat schon so manche politische Gruppe und persönliche Freundschaften zerrissen. Ich spreche nur für mich.
Ich habe 1997 bis 2013 das Projekt „Ferien vom Krieg“ entwickelt und koordiniert, in dem mehr als 1000 junge Israelis und Palästinenser, die kriegsmüde sind und neugierig auf „die anderen“, gemeinsame Ferien verbracht haben. Die Aktion „Ferien vom Krieg“ versteht sich als exemplarische Friedenspolitik auf Graswurzelebene und nicht als Solidarisierung mit einer bestimmten Opfergruppe. Sie soll zeigen, dass es in allen Kriegsgebieten junge Menschen gibt, die sich weigern Feinde zu sein. Ich bin der Überzeugung, dass der Friedensprozess auf beiden Seiten von unten zu sozialen Bewegungen wachsen muss und ein zu kostbares Gut ist, um ihn den Politikern zu überlassen. Ein Palästinenser schrieb nach der ersten Begegnung mit Israelis im Sommer 2002, also während der 2. Intifada:

„Wir können zusammen leben, sogar unter einem Dach, das ist eine phantastische Erfahrung“

Zur Zeit bin ich dabei, mit den langjährigen Mitarbeiter*innen der Aktion „Ferien vom Krieg“, die von meinen Nachfolger*innen entlassen wurden, ein Folgeprogramm für junge, mutige Aktivisten zu entwickeln:

„Courage for Peace“

Sechs Begegnungen haben seit 2017 in Jordanien stattgefunden. Weitere sind geplant. Ich habe im September 2017 mit Wolfgang D. als Beobachter*in daran teilgenommen und war anschließend bei Freund*innen in Palästina (Ramallah, Ost-Jerusalem, Nablus, Jenin, Azoun, Bethlehem, Qalqilia, Beit Jala u.a.) Dann fuhren wir nach Israel zum Neujahrsfest bei Freunden im Kibbuz.

Seit über 10 Jahren hat sich im besetzten Westjordanland eine zivilgesellschaftliche Bewegung gebildet. Es ist eine Art dritter Weg der Palästinenser zwischen einer korrupten Verwaltung, die von vielen schon lange nicht mehr als „Autorität“ anerkannt wird und den gewaltbereiten Hamas-Anhängern, deren Verbrechen kaum noch als Freiheitskämpfe schöngeredet werden. Die Fotos der „Märtyrer“ sind nahezu aus dem Straßenbild in der Westbank verschwunden, auch in den Hamas-Hochburgen.
Ich setze mich seit 10 Jahren mit BDS-Anhängern in Israel, Palästina und Deutschland auseinander, die zum Boykott der Begegnungen auffordern und dabei Druck ausüben („normalization“= Verrat). Ich halte das für eine autoritäre Einschränkung der Meinungsfreiheit, die man für sich selbst als Grundrecht einfordert. Antisemitische Motive habe ich dabei nicht feststellen können, obwohl es sie vereinzelt geben mag. Auch in Israel gibt es BDS-Anhänger*innen (Boycott from within), die durch Kriminalisierung eingeschüchtert werden sollen.

BDS hat nach meiner theoretischen und praktischen Analyse 4 Stufen, die für mich nicht in logischem Zusammenhang stehen.

Junge Israelis und Palästinenser suchen im Labyrinth gemeinsam nach einem Ausweg

  1. Boykott der Produkte aus den besetzten Gebieten – Dass dies völkerrechtlich ein legitimes, freiwilliges, gewaltfreies Kampfmittel ist, da sind sich inzwischen auch viele Politiker einig – bis in die CDU hinein. Da die Produkte aus den ‚Settlements‘ nicht deutlich gekennzeichnet sind, ist dieser Boykott im Alltag kaum praktikabel. Die Solidaritätsgruppen in Deutschland fordern in einem bunten Prospekt, das dem eines Supermarktes gleicht, nur zu dieser Form eines ‚Boykott-light‘ öffentlich auf. Dennoch wird der Popanz BDS konstruiert und dann darauf eingeschlagen.
  2. Boykott aller Waren und Dienstleistungen aus Israel.
    Welche gewaltfreien Mittel -außer zivilem Ungehorsam und passivem Widerstand- gibt es denn unter den Bedingungen der Besatzung? - Dazu gehört sicher auch der von dem Anti-Apartheidskampf in Südafrika inspirierte internationale Boykott-Aufruf. Damals hieß es: „Kauft keine Früchte der Apartheid“ und jetzt „Kaufverzicht für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel“. Es geht deutlich um die Veränderung der politischen Verhältnisse und nicht um rassistische Stereotype.
    Es handelt sich um eine internationale Kampagne, die man gut finden kann oder nicht, aber der Vergleich des Boykottaufrufs aus der palästinensischen Zivilgesellschaft mit der Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden“ ist historisch falsch, suggestiv und manipulativ. Der Vergleich ist genauso ignorant wie auf palästinensischer Seite der Vergleich von Gaza mit einem KZ. Die Last der Schuld und Verantwortung haben wir Deutsche zu tragen und können sie nicht den Palästinensern zuschieben.
    Für viele meiner FreundInnen und politischen Kampfgenossinnen ist ein Boykott gegen Israel aus biografischen und historischen Gründen undenkbar. Darüber setzen wir uns auseinander oder auch nicht. Mit Antisemitismus hat das rein gar nichts zu tun!
  3. Boykott kultureller und wissenschaftlicher Kontakte. 
    Die Befürwortung einer generellen ‚Kontaktsperre‘ mit Israelis ist kontraproduktiv und ignorant. Die neuen Historiker aus Israel (Ilan Pape usw.) haben die Legende vom Land ohne Volk gründlich demontiert und die Nakba als historisch gesichert belegt. Auch die meisten kritischen Filme zum Leben und Leiden unter der Besatzung sind israelische (Ko-) Produktionen usw.
    Wenn man die BDS-Kriterien dogmatisch anwendet, hätten die Referenten aus Israel gar nicht bei den diversen Veranstaltungen und Tagungen gegen die Besatzung sprechen dürfen. Die Verhinderung des kulturellen Austauschs, der wissenschaftlichen Kooperation und des öffentlichen Diskurses kommt faktisch einer Beschränkung der Meinungsfreiheit gleich, wie man sie den Anderen vorwirft.
  4. Boykott von Dialogprojekten. 
    Nach den schriftlichen Richtlinien der palästinensischen Bürgerkomitees sollen palästinensische Delegationen nur diejenigen Israelis treffen, die fraglos und entschieden den Kampf der Palästinenser unterstützen. Sonst seien solche Begegnungen nur kontraproduktive Friede-Freude-Eierkuchen Ideologie und Verschleierung der asymmetrischen Machtverhältnisse („normalization“). Damit wird das mögliche Ergebnis eines Dialogprozesses zu dessen Voraussetzung erklärt. Die gewaltsame Abschottung durch das israelische Militär wird intern durch die Abwehr von Kontakten noch verstärkt. Viele der jungen Palästinenser haben Angst. Der soziale Druck von BDS-Vertreter*innen auf die Teilnehmer*innen unserer Begegnungen wird immer stärker von der Drohung des sozialen Ausschlusses bis hin zum Vaterlandsverrat. Diese Ablehnung von Kontakten auf Graswurzelebene durch Bürgerkomitees ist in meinen Augen eine Bevormundung und Einschränkung der Meinungsfreiheit, wie es sie bei autoritären Tendenzen auch anderswo gibt – z.B. in Frankfurt bei gewählten Amtsträgern. Ich habe meine Sichtweise Vertretern der Bürgerkomitees in Palästina mitgeteilt und bin durchaus auf offene Ohren gestoßen.